Fast ein Jahr habe ich nichts auf dem Blog geschrieben, aber dennoch gab es vieles was ich hätte schreiben wollen, aber es fehlten die richtigen Worte.
Sommer 2016
„Was haben sie dir denn über Leni erzählt?“ fragte ich das junge Mädchen, 16 Jahre alt, gerade mal einen Kopf größer als Leni. „Sie hat Pflegestufe 3 und sitzt im Rollstuhl.“ Sie war aufgeregt, wie beim ersten Vorstellungsgespräch. Sie war zu jung, fast selbst noch ein Kind. Ich sagte ihr ab. Ein neues Mädchen stellte sich vor. Die Zeit drängte. Nur noch eine Woche bis zum Schulanfang. Leni hatte immer noch keinen geeigneten Schulbegleiter. Letztlich blieb uns keine wirkliche Wahl. 12 Jahre Schule liegen vor Leni. 12 Jahre in denen wir jeden Sommer junge ungelernte Mädchen oder Jungen einladen werden. Und innerhalb einer Stunde beurteilen sollen, ob der/diejenige für Leni geeignet ist.
Herbst 2016
„K. ist schon wieder krank. Wir haben diesmal aber einen tollen Ersatz bekommen, so dass die Nachmittagsbetreuung auch gewährleistet ist.“ Ich verdrehte meine Augen. „Schon wieder“ stöhnte mein Kopf. Krankheitsfälle, Abbruch, keine Motivation. Zwischen den vielen Freiwilligen finden sich vereinzelt engagierte junge Leute, die wirklich Lust haben behinderte Kinder zu betreuen. Vereinzelt…Leider…Und dennoch. Selbst die Wenigen sind nicht ausgebildet ein schwer mehrfachbehindertes Kind zu pflegen und zu betreuen. Die Lehrer sind am Rande ihrer Kräfte. Leni und ich auch.
Leni geht in die zweite Klasse und benötigt einen Schulbegleiter. Integrationshelfer werden sie auch genannt. Bei seelischer Behinderung ist das Jugendamt zuständig. Ist das Kind geistig und körperlich behindert fällt die Zuständigkeit an das Sozialamt. Die Genehmigung für Eingliederungshilfe in Form eines Integrationshelfer haben wir bereits erhalten, wenn auch die Bearbeitungszeit lange dauerte und erst 2 Monate nach Lenis Einschulung eine erste Schulbegleiterin im Auftrag des Bundesfreiwilligendienstes ihren Job antrat. (Übrigens nur für 2 Wochen…Abbruch aus privaten Gründen) Als Integrationshelfer werden hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene, die ein freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, eingestellt.
Wie kann es sein, dass junge unerfahrene Mädchen und Jungen ein schwermehrfachbehindertes Kind betreuen sollen? Die Aufgaben die Freiwillige als Schulbegleitung übernehmen sollen, beschränken sich nicht auf „Händchenhalten“. Pflegetätigkeiten wie Füttern und Wickeln, Unterstützung bei der Verwendung von Hilfsmitteln, wie zum Beispiel Lauftrainer und Stehständer, Unterstützung bei der Kommunikation, Unterstützung im sozialen emotionalen Bereich und auch Schutz vor Selbstgefährdung, all das fällt in den Bereich des Schulbegleiters und bei einem schwer mehrfachbehinderten Kind ist das eine verantwortungsvolle Aufgabe, die mit qualifizierten Kenntnissen verbunden sein muss.
Vielen Freunden und Bekannten denen ich das erzähle, nennen das Betreuen durch FSJ`ler unverantwortlich. Letztlich billig für das Sozialamt.
Unverantwortlich, das denke ich auch.
Ich beabsichtigte also eine Fachkraft als Schulbegleiter zu beantragen.
Nachgefragt beim SPZ, Eltern mit ähnlichen Problemen: lauter Gegenstimmen…“Das würde das Sozialamt nie tragen… eine Fachkraft Vollzeit bezahlen?.. da müsst ihr die Aufwendung selbst bezahlen… ihr müsstet vor Gericht … ist es das Wert?“
Ich kümmerte mich… telefonierte….Ich saß fast 2 Wochen jeden Abend für diesen Antrag… las Gerichtsurteile… versuchte zu verstehen was ein Schulbegleiter gesetzlich darf und was nicht, und was in der Praxis nötig ist. Alltag mit Leni eben. Ich schilderte die Aufgaben, die ein Schulbegleiter speziell bei Leni erbringen muss. Ich stellte meinen Antrag, 2 Seiten lang, bloß nichts auslassen, nichts Falsches schreiben, aber doch dringlich auf den Bedarf einer Fachkraft hinweisend.
April 2017
Wir bekamen vom Sozialamt einen Amtsarzttermin zugewiesen. Der erste Schritt in die richtige Richtung.
„Aber der FSJ wickelt sie doch nicht? Die gesamte Pflege darf er ungelernt doch gar nicht übernehmen?“ Ich zog meine Augenbrauen hoch? Ich versuchte all das zu beschreiben was ein Schulbegleiter, ein FSJ, machen darf, vor allem in der Pflege und Betreuung von Leni. Die Amtsärztin zog gleichfalls ihre Augenbrauen hoch.
Die beiden Amtsärztinnen wünschten mir Glück. Jetzt war das Sozialamt am Zug.
Tage ging ich mit einem mulmigen Bauchgefühl zum Briefkasten. Zwei Wochen nach dem Amtsarzttermin war er da, der Brief. Ich kann nicht beschreiben wie mein Herz pochte. Ich habe ihn aufgerissen. Ich überflog die ersten Zeilen. Sie waren nichtssagend. Dann der Satz „Ich beabsichtige Ihren Antrag zu bewilligen.“ Einzig den Leistungserbringer sollte ich selbst suchen, dann ergeht der Bescheid, denn im Rahmen der Leistungsgewährung ist der entsprechende Leistungserbringer zu nennen.
WOW! Eine Zusage, dachte ich damals. Ich hüpfte, tanzte durch das Haus. Ein Meilenstein. Ich musste sofort telefonieren und rief eben diesen für uns schon feststehenden Leistungserbringer an. Eine neue Dame sitzt dort seit einem Monat. Generell ist die Abteilung der Schulbegleitung erst ein Jahr überhaupt vor Ort. „Ja, das ist richtig wir haben dafür Fachkräfte als Schulbegleitung.“ Sie fragte mich nach längerer behördlicher bürokratischer Unterredung über Leni aus. Ich erzählte kurz über Lenis Syndrom „…Leni hat Pflegegrad 5 und muss auch gewickelt und gefüttert werden…“Sie unterbrach mich. „ Ach so. Verstehen sie mich jetzt nicht falsch, aber das Wickeln haben unsere Angestellten bisher nicht machen müssen. Wissen sie wir betreuen seelisch behinderte Kinder, Pflegerische Dienste fallen nicht in die Aufgaben eines Schulbegleiters.“ Mir fiel die Kinnlade herunter. Ich musste mich kurz sammeln. Mir fehlten die Worte. Ganz genau das muss ein Schulbegleiter doch gegebenenfalls übernehmen. Ich war überzeugt. „Heilerziehungspfleger pflegen nun mal auch? Wenn sie die Stelle sowieso ausschreiben müssen, wieso dann eben nicht direkt für einen Heilerziehungspfleger/in?“ „Das muss ich abklären, unmöglich ist das natürlich nicht, aber so einen Fall hatten wir bisher nicht.“
Ich verdrehte die Augen. Ich weiß….dachte ich… Leni ist eine der ersten körperlich geistigen behinderten Kinder, der das Sozialamt hier in Sachsen-Anhalt eine Fachkraft bezahlt statt eines Freiwilligendienstes. Und nun finden wir keinen Leistungserbringer? Irrsinn! wuselte es in meinem Kopf. Die Dame rief mich 3 Tage später zurück: „Wir können das nicht leisten. Sie brauchen einen Integrationshelfer, unter die Schulbegleitung fällt ihre Tochter nicht.“ Ich war entsetzt. Wieso fällt sie denn jetzt bitteschön nicht unter die Schulbegleitung? SCHULBEGLEITUNG was für eine Wort. Mir fehlten die Worte….schon wieder. Ich fragte sie nach dem Unterschied in ihren Augen, also Schulbegleiter versus Integrationshelfer. Sie meinte das I-Helfer ungelernte Kräfte wären. Und das würde Leni zustehen. Ich wurde wütend. Das Sozialamt hat mir aber eine Fachkraft in Aussicht gestellt.
Sie wiegelte ab. Ich fragte sie nach ihrem Vorgesetzten. Die Entschuldigung folgte in einem persönlichen sehr netten Gespräch mit dem Bereichsleiter und es wurde mir zugesichert, dass eine Heilerziehungspfleger/in gestellt werden kann. Das Sozialamt wurde über den Leistungserbringer informiert und eine Kostenkalkulation wurde erstellt. Die Schule musste ebenfalls noch ein Gutachten schreiben.
Juni 2017
Ich war mir sicher in den Sommerferien würden wir unseren positiven Bescheid bekommen, rechtzeitig zum Schuljahresbeginn, ca. 8 Monate nach Antragstellung. Die Heilerziehungspflegerin lernte unterdessen Leni kennen. Wir waren guter Dinge. Ich erfuhr, dass das Sozialamt die Unterlagen an die Sozialagentur weitergeleitet hatte. Ich dachte mir nichts weiter dabei, denn:
In Sachsen-Anhalt entscheidet über die Eingliederungshilfe nicht zuletzt das Sozialamt, sondern die Sozialagentur.
Die Sozialagentur ist kurz : üöTrSh, übersetzt: der überörtlicher Träger der Sozialhilfe im Land Sachsen Anhalt. Und die Aufgaben der Sozialagentur sind:
- die Eingliederungshilfe für Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung
- die Hilfen für pflegebedürftige Menschen
- die teilstationären und stationären Hilfen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten sowie
- die Blindenhilfe.
Und zu guter Letzt: - Der Sozialagentur obliegt auch der Abschluss von Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit den Trägern dieser Einrichtungen.
Quelle: https://sozialagentur.sachsen-anhalt.de/
Bedeutet, dass nicht das Sozialamt die Entscheidung letztlich fällt, sondern die Sozialagentur muss bezahlen und die Vergütungsvereinbarung mit dem Leistungserbringer sozusagen absegnen.
August 2017
Der Sommer verging, die Ferien waren fast zu Ende. 2 Tage vor Schulbeginn:
Es war kurz nach 10 Uhr. Mein Handy klingelte. Das Sozialamt war dran. „Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie.“ Ich schluckte, ich wußte was jetzt kam. „Die Sozialagentur hat die Fachkraft nicht bewilligt.“
Ich wurde bleich, mir fehlten die Worte.
Ich lachte, irgendwie innerlich… diese Willkür der Ämter… Mal wieder. Als ob ich in 8 Jahren Pflege von Leni mit jeglichem Bürokratiewahnsinn nicht wußte, dass es Ablehnungen gibt. Ja sie gibt es. Mit einem behinderten Kind, wie Sand am Meer. Jetzt war es also mal wieder so weit, acht Monate seit Antragstellung, jetzt Ablehnung auf unseren Antrag der Eingliederungshilfe in Form einer heilpädagogischen Fachkraft.
Irgendwie fühlte ich mich völlig verklappst.
Ich fragte nach dem Grund. Die Frau vom Sozialamt druckste herum.
„Warten sie doch erst mal das Schriftliche ab, ich wollte sie nur schon telefonisch informieren, ich schicke ihnen alles zu.“ Ich wollte nicht warten. In zwei Tagen sollte die Schule losgehen. Sie hatte wohl meine Frage nicht verstanden. Ich wiederholte: „Was bitte ist die Begründung?“ Sie versuchte zu umreißen. „Pädagogische Aufgaben dürfte der Schulbegleiter nicht übernehmen, dafür wäre dann das Schulamt zuständig.“ Ich lachte wieder, innerlich, weil eigentlich fehlten mir die Worte.
Genau das habe ich auch nicht beantragt. Bei allen Recherchen, die ich bereits bei der Antragstellung betrieben hatte, wusste ich wohl das ein Schulbegleiter keine pädagogischen Aufgaben in dem eigentlichen Sinne verrichten darf. Ich habe einen Heilerziehungspfleger/in beantragt und keinen Sonderpädagogen der den Klassenlehrer spielt.
Warum jetzt die Ablehnung, zwei Tage vor Schulbeginn. Warum wurden wir zum Amtsarzt geschickt? Warum habe ich mich um den Leistungserbringer kümmern müssen? Wenn das Sozialamt meint ein Heilerziehungspfleger wäre ein Pädagoge bzw. Sonderpädagoge und dürfe gewisse Aufgaben nicht übernehmen, warum stellt mir das Sozialamt eigens dann keine gerechte qualifiziert Fachkraft für die Pflege und Betreuung? Das Sozialamt reibt sich am Wort PÄDAGOGIK auf, dass würde nicht unter die Eingliederungshilfe fallen. Aber:
Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Eingliederungshilfe-Verordnung) besagt folgendes:
„§ 12 Schulbildung: Die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch umfasst auch
1. heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern,
Was bedeutet dann „heilpädagogische Maßnahme“?
Die Einstellung einer heilpädagogische Fachkraft, in unserem Fall eine Heilerziehungspflegerin, als Schulbegleitung ist laut Sozialamt dann wohl nicht gemeint.
Mir wuseln nur noch Wörter im Kopf herum, ein Integrationshelfer ist angeblich keine Schulbegleitung, ein Pädagoge auch nicht. Ich bin ganz durcheinander. Aber was ist dann eine qualifizierte Fachkraft als Schulbegleitung, die laut Amtsarzt eine intensive Betreuung mit fachlicher Qualifikation im pflegerischen und heilpädagogischen Bereich erbringen soll? Und wer übernimmt jetzt die Verantwortung? Was ist wenn Leni unter der Pflege des FSJ etwas passiert? Klar ist, dass dafür eine qualifizierte Fachkraft benötigt wird. Um das festzustellen war der Amtsarzt zuständig, eigens vom Sozialamt beauftragt und doch wird uns wieder nur ein FSJ`ler bewilligt. Übergeht hier das Sozialamt wissentlich in weiten Teilen ein Amtsarztgutachten um Geld zu sparen? Nimmt das Sozialamt billigend die Kindeswohlgefährdung eines schwer mehrfachbehinderten Mädchens in Kauf? Wäre das nicht ein überaus verantwortungsloses Handeln des Sozialamtes?
Mir bleibt nur übrig viele Wege zu gehen und den üblich rechtlichen Weg.
Ich schreibe mal wieder einen Widerspruch, ganz klar. Ist ja nicht mein erster.
Und die fehlenden Worte?
Die habe ich aufgeschrieben.
Hintergrundinformation:
Der Beruf des Schulbegleiters ist in Deutschland gesetzlich nicht verankert und in seiner Tätigkeit nicht genau definiert. Durch Gerichtsurteile und Angaben über Sozialämter haben sich Aufgaben herauskristallisiert. Die Abgrenzung zwischen pädagogischen Aufgaben und der Assistenz ist bei sehr schwer-mehrfachbehinderten Kinder in der Praxis sehr schwierig und fließend. Eindeutig ist laut Rechtsprechung, dass ein Schulbegleiter nicht im Kernbereich der schulischen Arbeit tätig werden darf, sondern lediglich assistierend, um die Teilhabe am Unterrichtsalltag zu ermöglichen.