Groß geworden

Sitzen – Stehen – Laufen – Sprechen – Kauen. Vielleicht wird sie es lernen, vielleicht nicht. Leni war ein Baby, ein süßes Baby. Sich die Zukunft vorzustellen, wie sie mal im Rollstuhl sitzt, blind, sabbernd, vielleicht nichtssagend. Es war unvorstellbar. Wie wird es sein in 10 Jahren? Was wird sie können? Wird sie überhaupt noch bei uns sein? Es machte mir Angst. Alles machte mir Angst. Ich wollte Antworten auf meine Fragen, aber ich bekam sie nicht.

Ein Tag nach dem anderen verging. Mit Leni nuckelnd an meiner Brust, mit nun mehr unzähligen Terminen: Physiotherapie, Frühförderung, Augenklinik, Kinderarzt, Humangenetik, Sanitätshäuser, SPZ, Gesundheitsamt, Krankenkasse, Sozialamt… die Liste wurde lang.

Leni bekam mit 5 Monaten ihre erste Brille. Es war nicht klar ob sie überhaupt etwas sieht. Ist sie blind? Ich habe Nächte wach gelegen. Wie soll ich ihr nur den Regenbogen beschreiben, die Farben, das Grün in unserem Garten?


Leni konnte ihre Arme und Beine nicht kontrollieren. Sie überstreckte sich sehr, sie zappelte. Sie sah aus wie ein kleines Vögelchen, schlagend mit ihren winzigen Flügelchen und japsend nach Futter.
Sie trank gut an der Brust. Sie schlief gut, dennoch, unsere Nächte waren durchzerrt von Alarmen, ihrer Hechelatmung, ihren Apnoen.

Mit 6 Monaten fing ich an ihr Brei zu füttern, ich war aufgeregt, bekommt sie das überhaupt hin? Es klappte, sie schlabberte den Brei einfach weg.
Sie konnte ihren Kopf in Bauchlage nicht heben. Ihre erste zufällige Drehung machte sie mit 9 Monaten, bewusst drehen konnte sie sich mit 2 Jahren.

Im Oktober 2009 waren wir im humangenetischen Institut in Lübeck. Bis dahin war uns nicht klar wie aufwendig und kompliziert es doch war, Gendefekte wie diesen von Leni zu sequenzieren. Es war eine Nadel im Heuhaufen. Sie wurde einen Monat später gefunden und nennt sich ganz simpel formuliert Defekt im Gen CEP290 auf Chromosom 12.
Es war ein Gefühlschaos, wir hatten die Nadel, wussten auch wie sie aussah nur nicht wie schnell sie rostet oder wann sie kaputt geht. Prognosen waren vage, das Syndrom sehr selten.
Aber wir hatten eine sichere Diagnose. Wir konnten lernen mit Lenis Krankheit umzugehen.

Leni machte Fortschritte, nicht so wie man sich das vorstellt, viel langsamer, viel bewusster, viel intensiver. Es war schon ein riesen Glücksgefühl, als sie ein Gegenstand auf Kontakt zugriff. Stubsend haben wir das Spielzeug in ihre Hand gelegt und waren stolz, dass sich ihre Hand schloss. Es waren kleine Schritte, die für uns die Welt bedeuteten, heute noch.
Mit 4 Jahren konnte sie das erste mal frei sitzen, wenn man das überhaupt sagen kann. Auch heute noch plumpst sie manchmal einfach um, durch ihre Ataxie, ihre Gleichgewichtsstörung, ihre fehlende Konzentration.
Im Stehständer übt sie seit sie 4 Jahre alt ist und übernahm mit 5 Jahren einen guten eigenen Stand. Ähnlich wie beim Sitzen ist es nur mit Hilfe möglich, dass sie nicht umkippt. Das ihre Beine nicht mehr einknicken, sie Kraft hat, sich schon am Rand des Tisches festhalten kann – ein Meilenstein.
Mit fast 6 Jahren schaffte sie ihre ersten beiden Gebärden: Essen und Trinken. Ich habe geweint.

Wir können Leni lesen auch ohne Worte aber manchmal auch nicht. Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung, neben schier unglaublichem Geschrei und dann wieder mit dem unverwechselbarsten herzlichsten Lachen, das ich kenne.

Sie geht ihren Weg, wir begleiten sie, wohin auch immer, wie auch immer.
Sie ist jetzt 6 Jahre alt und kommt im Sommer in die Schule. Ich bin stolz, unendlich stolz auf sie.

Dieses süße kleine Baby – Sie ist groß geworden.

1 Kommentar

  1. Hallo

    Suuper toll !!!

    Dein Paps

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